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Freitag, 13. Januar 2017

*** ausgeplaudert ***

Der erste Tag

Die Krankenschwestern trugen noch ihre Schwesterntracht mitsamt Häubchen und die Krankenpfleger wurden häufig mit »Wärter« angesprochen.
Als junger Medizinpraktikant wurde ich in diese Krankenhauswelt, von der ich noch keine Ahnung hatte, hineinkatapultiert. Vor Studienbeginn musste man so ein Praktikum ableisten.

In einer großen städtischen Klinik trat ich auf einer septischen Männerstation in der Chirurgie meinen Dienst an.
Auf dieser Station lagen ausschließlich Patienten mit vereiterten Wunden.

Die Stationsschwester machte nicht viel Federlesens mit mir, sie drückte mir eine verchromte Zwickzange in die Hand und schickte mich über die Station zum Fußnägel schneiden.

Etwas überrumpelt, aber trotzdem frohen Mutes, steuerte ich das erste Krankenzimmer an. Es lagen sechs Männer darin, die mich neugierig beäugten. Gleich zur Linken lag ein alter Mann, dem ich mich sogleich zuwandte.
»Auf gehts Opa, Fußnägel schneiden!«, sagte ich zu ihm laut und deutlich und schlug die Bettdecke zurück. Allgemeines Gelächter war die Folge.
»Ich hab doch keine mehr!«, bekam ich zur Antwort.
Da lag dieser bedauernswerte Mensch vor mir ohne Beine. Die waren vor Kurzem in Oberschenkelhöhe amputiert worden.
Ich musste ziemlich bedröppelt geschaut haben.
Trotzdem ließ ich mich nicht entmutigen und nahm den Patienten daneben ins Visier.

»Bist Du ein neuer Wärter?«, fragte mich dieser.
»Nein, ich will mal Medizin studieren!«, gab ich ihm wahrheitsgemäß zur Antwort. Dann machte ich mich über seine Zehennägel her.

Nun rauschte eine wunderschöne Schwesternschülerin herein und brachte allen Patienten Tee. Ihre Tracht verriet mir, dass sie im dritten Ausbildungsjahr war. Sie lächelte mich himmlisch an. Ich vergaß sämtliche Fußnägel dieser Welt und lächelte zurück.

»Bist Du der neue Medizinstudent?« Es entstand eine Pause, in der ich irgendwas mit Ja brabbelte und meinen Vornamen sagte. »Ich bin die Heidi!« Dann stellte sie das letzte Glas Tee ab und schwebte, mit einem kessen Blick über die Schulter, aus dem Zimmer.

Ein, »Herr Doktor, Du hast meine Fußnägel vergessen!«, brachte mich wieder in die Realität zurück. Ich musste die himmelsgleiche Erscheinung verdrängen und mich den schnöden Zehennägeln widmen.

Das erste Zimmer war geschafft. Auf dem Flur begegnete ich der Stationsschwester. »Morgen machen Sie das nächste Zimmer!«, befahl sie mir. »Jetzt gehen Sie mit zur Verbandsvisite!«

Wenig später kam der Stationsarzt, ein schmächtiger junger Mann mit freundlichen Augen und einem Lächeln auf den Lippen.
Ah, Herr Kollege, wie lange bleiben Sie bei uns?« Er nannte mich »Kollege«, da war ich schon ein bisschen stolz. Dann gab er mir die Hand und ich antwortete »Sechs Wochen!«
Dr. Mihailovic, ich weiß nicht mehr, ob der Name so richtig geschrieben ist, nahm mich unter seine Fittiche. Ich durfte ihm beim Verbinden zur Hand gehen.

Septische, also infizierte, vereiterte Wunden, sind oft sehr aufwendig. Unter den Argusaugen der Stationsschwester packte ich mit an und Dr. Mihailovic erklärte mir, was es mit diesem und jenem Patienten auf sich hat und warum er die eine Wunde so und die andere anders verband.

Die Verbandsvisite verging wie im Flug. Schwester Dora, so hieß die Stationsschwester, meinte, es sei für den Anfang ganz ordentlich gewesen.

So verging der erste Tag meines Praktikums ohne nennenswerte Komplikationen. Todmüde setzte ich mich in den Zug und fuhr nach Hause.

Das himmlische Wesen bekam ich an dem Tag nicht mehr zu Gesicht.

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